Von Dipl.-Jurist Dipl.-Verwaltungswirt Helmut Krethe
I.
1.
Insbesondere in Großverfahren kommt es vermehrt zu Absprachen (Deals) zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Angeklagtem und Verteidigern. Diese Absprachen zielen auf einen „Strafrabatt“ des Angeklagten, wenn dieser ein umfassendes Geständnis ablegt und dadurch das Strafverfahren maßgeblich verkürzt wird.
Staatsanwaltschaften und Richter wollen ein schnelles Verfahren, um die Akte zu schließen und sich der nächsten Akte zu widmen. Sie sehen hierin eine Prozessökonomie, welche aber auf Kosten des Rechts gehen und somit der Rechtsstaat Schaden nehmen könnte.
Die Folgen einer Verurteilung werden also zwischen den Beteiligten abgestimmt.
2.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 28.8.1997 festgestellt, dass Absprachen im Strafprozess nicht grundsätzlich unzulässig sind, wenn dafür Regeln eingehalten werden. Diese sind:
- Absprachen erfolgen in öffentlicher Hauptverhandlung (Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung sind zulässig);
- das Gericht hat vor der Urteilsverkündung kein bestimmtes Strafmaß zuzusagen, jedoch könne es eine Strafobergrenze nennen;
- die allgemeinen Strafzumessungsgesichtspunkte sind zu beachten;
- vor Urteilsverkündung ist ein Rechtsmittelverzicht des Angeklagten unbeachtlich.
Nachfolgend gab es insbesondere zum vorherigen Rechtsmittelverzicht des Angeklagten erhebliche Diskussionen in der Judikatur. Eine weitere Diskussion entzündete sich daran, dass es überhaupt die Möglichkeit eines Deals im Strafprozess gibt.
Im Jahr 2005 hat der Große Strafsenat des BGH an den Gesetzgeber appelliert, Voraussetzungen und Begrenzungen von Absprachen im Strafprozess gesetzlich zu regeln.
3.
Der Gesetzgeber hat hierauf reagiert und durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 den § 257 c in die Strafprozessordnung (stopp) eingeführt.
Dieser sieht in geeigneten Fällen eine Verfahrensverständigung unter folgenden Voraussetzungen vor:
- Gegenstand einer Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörenden Beschlüsse sein können;
- Bestandteil jeder Verständigung ist ein Geständnis des Angeklagten;
- das Gericht hat den Inhalt der Verständigung im Hauptverhandlungsprotokoll wiederzugeben, ebenso kann es eine strafunter- bzw. –obergrenze angeben;
- Staatsanwaltschaft und Angeklagter müssen der Verständigung (Vorschlag des Gerichts) zustimmen;
- die Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und der Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen ist;
- der Angeklagte ist diesbezüglich zu belehren.
4.
Die Zulässigkeit von Absprachen im Strafprozess wird derzeit vom Bundesverfassungsgericht untersucht. Die mündliche Verhandlung dazu fand im November 2012 statt. Mit einem Urteil ist im Laufe des Jahres 2013 zu rechnen.
Diese Problematik ist verfassungsrechtlich zu untersuchen.
II.
1.
Normen der Rechtsprechung sind im 9. Kapitel des Grundgesetzes (GG) geregelt undzwar in den Artikeln 92 bis 104 GG.
Hervorzuheben ist die Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) und die in Art. 103 GG genannten Grundrechte des Angeklagten vor Gericht. Namentlich werden hier genannt der Anspruch auf rechtliches Gehör, die gesetzlich bestimmte Strafbarkeit vor Tatbegehungsowie das Verbot der Doppelbestrafung.
Normen des Strafverfahrensrechts finden sich im Verfassungsrecht (Rechtsstaats-, Sozialstaatsprinzip des Art. 20 III GG und im vorgenannten 9. Kapitel des GG), im Gerichtsverfassungsgesetz, der Strafprozessordnung, dem Jugendgerichtsgesetz sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Bei Letzterem handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der mittels eines Transformationsgesetzes im Jahre 1952 umgesetzt wurde und den Rang eines einfachen Gesetzes genießt. Die Rechte des Angeklagten werden speziell in Art. 6 EMRK genannt.
2.
Aus den genannten Rechtsnormen haben sich hinsichtlich des Strafverfahrens Prozessrechtsgrundsätze entwickelt, die nachfolgend im Überblick dargestellt werden:
- Offizialprinzip § 152 I StPO
- Legalitätsprinzip § 152 II StPO
- Anklagegrundsatz § 151 StPO
- Ermittlungsgrundsatz § 244 II StPO
- Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung § 261 StPO
- Mündlichkeitsprinzip § 261 StPO
- Grundsatz der Unmittelbarkeit §§ 226 I, 250, 261 StPO
- Unschuldsvermutung und „in dubio pro reo“ § 261 StPO, Art. 6 II EMRK
- Beschleunigungsgebot Art. 20 III GG, Art. 6 I 1 EMRK
- Grundsatz der Öffentlichkeit § 169 S. 1 GVG, Art. 6 I 1, 2 EMRK
- Gebot eines fairen Strafverfahrens (fair trial) Art. 20 III GG, Art. 6 I 1 EMRK
- Grundsatz des gesetzlichen Richters Art. 101 GG
- Grundsatz des rechtlichen Gehörs Art. 103 GG
- Nemo-Tenetur-Prinzip Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I, 20 III GG.
3.
Hinsichtlich von Absprachen im Strafprozess könnten trotz formeller Einhaltung der Norm des § 257 c StPO das Gebot eines fairen Strafverfahrens, der Grundsatz des gesetzlichen Richters, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs sowie das Nemo-Tenetur-Prinzip verletzt sein.
a) Gebot eines fairen Strafverfahrens (fair-trial-Prinzip)
Das Gebot des fairen Verfahrens wird aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG i.V.m. Art. 6 I EMRK abgeleitet. In der Literatur wird aber auch eine Gesamtschau der Art. 1, 2, 19 IV, 20, 28, 103 GG, Art. 6 I 1 EMRK bemüht (BGH NJW 2001, 2245).
Der Anspruch auf ein faires Verfahren verlangt eine verfahrensrechtliche Waffengleichheit zwischen Beschuldigten/Angeklagtem und juristisch ausgebildetem Ankläger und stellt ein allgemeines Prozessgrundrecht dar (BVerfGE 57, 250, 275).
In der h.L. gilt die Ausgestaltung und Reichweite dieses Gebots als umstritten. Es ist fraglich, in welchen Fällen dieses Gebot ein bestimmtes Prozessverhalten vorschreibt und welche Konsequenzen im Einzelfall gezogen werden müssen.
aa) Bei den hier in Rede stehenden Absprachen im Strafprozess wird in der Regel die Beweisaufnahme (deutlich) verkürzt. Der Verteidigung bzw. dem Angeklagten wird das Recht der Zeugenbefragung und Anträge auf Sachverständigenbeweis genommen.
Gem. § 244 II StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Dieser gesetzlichen Pflicht kommt das Gericht bei Absprachen nicht nach.
Nach diesseitiger Ansicht wird das Recht korrumpiert, weil die Richter die Richtigkeit eines Geständnisses nach einer Absprache nicht überprüfen und auf weitere Beweismittel verzichten. Die Wahrheit, die am Ende des Verfahrens festgestellt wird, ist nicht ermittelt worden, sondern sie wurde von den Prozessbeteiligten vereinbart.
Konsens und Strafrecht vertragen sich nicht. Mit der Gerechtigkeit wird Handel getrieben. Der Strafprozess darf nicht zum Geben und Nehmen werden, so dass Angeklagte meinen, ein „Schnäppchen“ gemacht zu haben. Ein Handel mit der Gerechtigkeit stellt eine gesetzliche Vorgabe zu Lasten dieser dar.
bb) Ein wesentlicher Bestandteil einer Verurteilung des Angeklagten ist das Schuldprinzip. Der Angeklagte ist tat- und schuldangemessen zu bestrafen. Absprachen verstoßen gegen das Schuldprinzip, denn es ist unverständlich, dass ein Geständnis, welches die Justiz in ihrer Arbeit entlastet, Strafen wegen Unrechts halberen können soll.
Es fällt auf, dass reuige Täter, die sofort gestehen, oftmals härter bestraft werden, als solche, die sich ein Geständnis erst im Prozess gegen Strafrabatt abhandeln lassen.
cc) Nach Vorgenanntem liegt bei Absprachen im Strafverfahren ein Verstoß gegen das Gebot eines fairen Strafverfahrens vor.
dd) Die Rechtsprechung sieht in einem Verstoß gegen dieses Gebot in der Regel kein Prozesshindernis (BGHSt 42, 191, 193).
Hiergegen wird eingewandt, dass das Gebot eines fairen Strafverfahrens ein grundrechtsgleiches Recht darstellt. Ein Verstoß dagegen ist nach diesseitiger Ansicht verfassungswidrig.
b) Grundsatz des gesetzlichen Richters
Art. 101 GG fordert, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Dies gilt nach dem Gerichtsverfassungsgesetz für die örtliche, sachliche und funktionelle Zuständigkeit des Gerichts. Um Manipulationen auszuschließen, soll die Aburteilungsbefugnis von vornherein feststehen.
Die Aburteilungsbefugnis schließt das Recht und die Pflicht des Spruchkörpers ein, ein tat- und schuldangemessenes Urteil zu fällen.
Ein tat- und schuldangemessenes Urteil ist bei Absprachen im Strafverfahren, die vor Ende der Beweisaufnahme getroffenen werden, nicht mehr möglich, da die Absprache regelmäßig mit einer Zusage eines Strafrabatts bzw. der Zusage einer Strafobergrenze endet.
Ein tat- und schuldangemessenes Urteil ist seitens des Spruchkörpers gehemmt, da das Gericht regelmäßig zu seiner Zusage stehen wird, es sei denn, im Verlaufe des weiteren Verfahrens treten Sachverhalte zu Tage, die eine andere (schwerwiegendere) Würdigung hinsichtlich des Strafmaßes erfordern.
Dies stellt eine objektiv willkürliche Maßnahme dar. Hierin liegt die Entziehung des gesetzlichen Richters.
Somit liegt bei Absprachen im Strafverfahren ein Verstoß gegen Art. 101 GG vor. Dies ist verfassungswidrig.
c) Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs i.S.v. Art. 103 I GG ist ein Grundrecht. Der Beschuldigte/Angeklagte hat das am Recht auf kommunikative Beteiligung am Verfahren.
Der Betroffene soll nicht zum Objekt des Verfahrens gemacht werden. Die Rechtsprechung sieht diesen Grundsatz als Wahrung der Menschenwürde (BVerfGE 7, 275). Der Betroffene muss in jeder Lage des Verfahrens das Recht haben, zu Tatsachen und Beweisergebnissen Stellung zu nehmen.
Bei Absprachen im Strafprozess wird dem Angeklagten dieses Recht genommen, weil die Beweisaufnahme verkürzt wird (siehe a).
Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz stellt somit ein Verstoß gegen Art. 103 I GG dar und ist verfassungswidrig.
d) Nemo-Tenetur-Prinzip
Der Beschuldigte bzw. Angeklagte ist in keiner Weise verpflcihtet an seiner eigenen Überführung mitzuwirken (nemo tenetur se ipsum accusare). Dieser Grundsatz istAusdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG).
Der Betroffene hat also die Wahl auszusagen oder sich nicht zur Sache einzulassen. Verweigert der Betroffene die Aussage, dürfen im Urteil keine negativen Schlüsse gezogen werden. Auch hat der Angeklagte vor Gericht das Recht zur Lüge, ohne dass ihm das negativ ausgelegt werden darf.
Absprachen im Strafprozeß gehen einher mit dem „Versprechen“ des Gerichts auf einen Strafrabatt. Zur Voraussetzung dessen wird jedoch ein umfangreiches Geständnis des Angeklagten erwartet. Dem Angeklagten wird in Aussicht auf ein mildes Urteil das Wahlrecht vor Gericht auszusagen oder die Aussage zu verweigern, gänzlich genommen. Ihm steht faktisch keine Entscheidungsfreiheit zu.
Dies ist ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG und ist verfassungswidrig.
e) Ergebnis
aa) Es stellt sich die Frage, ob Verstöße gegen die vorgenannten Prozessgrundsätzeunbeachtlich sind, weil der Beschuldigte/Angeklagte selbst zum Ergebnis einer vorherigen Absprache beigetragen hat, in dem er seine Zustimmung hierzu erklärt hat.
Da Prozessgrundsätze Grundrechte bzw. grundrechtsgleiche Rechte darstellen, würde es bedeuten, dass Grundrechte für den Einzelnen disponibel wären.
Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung (Zwergenweitwurffall) abgelehnt. Grundrechte sind somit nicht disponibel.
bb) Aus Vorstehendem folgt, dass Absprachen im Strafprozess gegen Grundrechte aus Art. 2 I i.V.m. Art 1 I, 20 III, 103 I GG und dem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 101 GGsowie gegen Art. 6 I EMRK verstoßen und somit verfassungswidrig sind.
HK, Februar 2013