Der Deutsche Bundestag hatte im April 2021 eine Corona-Notbremse, auch Bundesnotbremse genannt, im Infektionsschutzgesetz beschlossen. Überschreitet demnach ein Landkreis oder eine kreisfreie Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine Inzidenz von 100, galten dort ab dem übernächsten Tag zusätzliche, bundeseinheitliche Maßnahmen. Diese Bündel bundesweit geregelter Corona-Maßnahmen wie z.B. Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Maskenpflicht etc. trat am 23.4.2021 in Kraft.
Gegen diese Bundesnotbremse wurden im Laufe der Zeit mehr als 8.500 Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erhoben. Hierüber wird das Gericht im Oktober / November 2021 entscheiden.
In diesem Aufsatz geht es nicht um eine Diskussion zur Sachentscheidung, sondern um eine mögliche Befangenheit des Präsidenten des höchsten deutschen Gerichts.
Was war vorgefallen?
Die Bundesregierung hatte das gesamte Bundesverfassungsgericht zum Abend des 30. Juni 2021 in das Kanzleramt zum Abendessen geladen. Anlässlich dieses Zusammentreffens sollten folgende Themen besprochen werden: „Ist die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes auch im globalen Krisenfall noch handlungsfähig?“ Und: „Desinformation und hybride Bedrohungen.“
Nach Enthüllung der WELT am SONNTAG vom 10.10.2021 (S. 6) soll ca. vier Wochen vor dem Termin im Kanzleramt der Präsident des BVerfG, Harbarth, höchst selbst darum gebeten haben, die Thematik des Abends dergestalt zu ändern, nunmehr folgende Themen zu besprechen: „Zusammenspiel von EU und deutschem Recht“ und: „Entscheidung unter Unsicherheiten.“
Einer Person wie Stephan Harbarth musste damit klar sein, dass mit dem Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ die Coronapandemie gemeint ist. Obwohl auch das Kanzleramt ein „mulmiges Gefühl“ angesichts anhängiger Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesnotbremse hatte, wurde aber dem Wunsch des Gerichtspräsidenten gefolgt.
In dem Artikel der WELT am SONNTAG heißt es: „Kann es sein, dass Harbarth an diesem Abend weniger das Grundgesetz im Auge hatte, dafür mehr die Anliegen seiner ehemaligen Chefin?“ Stephan Harbarth war vor der Berufung zum Präsidenten des BVerfG CDU-Bundestagsabgeordneter. Und weiter heißt es in dem Zeitungsartikel: „Offenbar gab Harbarth die Fragen vor, die in den Vorträgen beim Abendessen behandelt werden sollten: Welche Beurteilungsspielräume verbleiben den Gewalten bei tatsächlichen Unklarheiten? Wie viel Überprüfbarkeit verbleibt dem BVerfG? Welche Evaluierungspflichten sind dabei zu berücksichtigen?“
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat nach Angaben der WELT am SONNTAG diese Fragen beim Abendessen mit den Richterinnen und Richtern des BVerfG beantwortet. So soll sie ein Plädoyer für die Verfassungskonformität der Bundesnotbremse gehalten haben.
Nach diesseitiger Ansicht liegt hierin eine versuchte rechtswidrige Einflussnahme der Bundesregierung auf das BVerfG unter tatkräftiger Mithilfe des Gerichtspräsidenten vor.
Es stellt sich die Frage, ob der Präsident des BVerfG, Stephan Harbarth, im Hinblick auf die anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesnotbremse befangen ist.
Im deutschen Verfassungsrecht kennen wir eine klare Gewaltenteilung, nämlich Legislative, Exekutive und Judikative. Dies ist eine wichtige Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und soll dazu beitragen, Machtmissbrauch vorzubeugen und die Freiheit des Bürgers zu sichern.
Befangenheit ist die Einschränkung der objektiven Einstellung aus subjektiven Gründen. Wegen Besorgnis der Befangenheit findet eine Ablehnung statt, wenn ein Grund vorgebracht wird, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen (vgl. § 24 II Strafprozessordnung). Diese Norm ist ein fachgesetzlicher Ausdruck der verfassungsrechtlichen Prinzipien des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 Grundgesetz) und der Unabhängigkeit der Gerichte (Art. 97 I GG), die garantieren, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrenbeteiligten bietet (vgl. BVerfG 2 BvR 958/06 vom 27.12.2006). Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist gerechtfertigt, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Ob die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit stattfindet, beurteilt sich stets im Hinblick auf das konkrete Verfahren.
Die vorgenannte Handlungsweise des Gerichtspräsidenten Harbarth lässt den Schluss zu, dass sich der Gerichtspräsident der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin erkenntlich zeigen wollte. Es dürfte in der Berliner Politikbühne kein Geheimnis sein, dass die Bundeskanzlerin beim Personalvorschlag eines Richters am höchsten Gericht ein gewichtiges Wort mitzusprechen hat.
Dieses sachfremde Handeln des Gerichtspräsidenten schränkt die objektive Einstellung zu der zu entscheidenden Problematik der Bundesnotbremse aus subjektiven Gründen, nämlich durch das Zeigen einer gewissen Dankbarkeit der Erlangung einer herausgehobenen Position am BVerfG, ein und begründet somit eine Befangenheit.
Nach diesseitiger Ansicht rechtfertigt das Handeln des Gerichtspräsidenten ein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Da er offensichtlich nicht mehr neutral in der Sache entscheiden kann, muss Stephan Harbarth wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und von den zu erfolgenden Entscheidungen über die Verfassungsbeschwerden gegen die Bundesnotbremse abgezogen werden.
Sein Einwand, dass die von ihm vorgeschlagenen Themen beim Abendessen im Kanzleramt für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen geeignet seien, ist zwar objektiv betrachtet richtig, jedoch im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Bundesregierung richten, zu einem solchen Zeitpunkt nicht opportun.
Das Bundesverfassungsgericht sieht allerdings gem. Beschluss vom 18.10.2021 keine Befangenheit Harbarths, weil die Gesprächsthemen abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffe und es sich auch ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren erörtern lasse.
Der Unterzeichner ist dagegen der Auffassung, dass die Handlungsweise des Gerichtspräsidenten den „bösen Schein“ einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit begründet. Allein dieser „böse Schein“ rechtfertigt es, den Gerichtspräsidenten vom weiteren Verlauf der Entscheidungsfindung in der Sache abzuziehen.
Der Präsident des BVerfG bekleidet das fünfthöchste Amt in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn ein Präsident eines solchen Verfassungsorgans sich solcher beschriebenen Handlungsformen bedient, muss er sich fragen, ob er zur Führung eines solchen Amtes noch geeignet ist.
Das BVerfG wird als Hüterin der Verfassung gesehen. Stephan Harbarth jedoch hat dem Ansehen des Gerichts Schaden zugefügt.
HK 21.10.2021