I.
Neulich hatte ich eine angeregte Diskussion mit unserem Sohn über die in vielen Ländern bestehenden Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Coronakrise. Unser Sohn äußerte die Sorge, dass die Beschränkungen von einigen Staaten, wie z.B. Ungarn, genutzt werden könnten, dauerhaft Grundrechtseinschränkungen zu installieren und das die auch bei uns in Deutschland passieren könnte. Ich entgegnete, dass wir im Grundgesetz ein Instrument haben, dass so etwas verhindert. Daneben haben wir auch noch die Europäische Union, die uns „auf die Finger hauen“ würde. Offensichtlich konnte ich ihn nicht überzeugen, weil er bei seiner Meinung blieb.
Bislang haben 20 EU-Länder eine Art Notstandsgesetzgebung verabschiedet, um die Coronakrise erfolgreich zu bekämpfen und die notwendigen Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und den Schutz der Menschen gegen das Virus durchsetzen zu können. Diese Maßnahmen sind auch verhältnismäßig und dürfen nur während der Dauer der Coronakrise greifen. Nach Ende der Krise müssen diese Maßnahmen unverzüglich zurückgeführt werden (vgl. auch mein Aufsatz „Sind Grundrechtsbeschränkungen in Zeiten der Coronakrise verfassungsgemäß?“) auf meiner Homepage.
Besteht wirklich die Gefahr, dass durch Corona die demokratische Ordnung in Deutschland geschwächt werden könnte, indem die Grundrechtsbeschränkungen dauerhaft Geltung erlangen könnten?
II.
In Artikel 20 I Grundgesetz (GG) wird postuliert, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist.
Die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen (auch tragende Verfassungsprinzipien genannt) sind: Republik, Demokratie, Sozialstaat und Bundesstaat. Sie werden durch die Entscheidung für den Rechtsstaat ergänzt, die in Art. 20 III, 28 I GG zum Ausdruck kommt. Auch die Menschenwürdegarantie in Artikel 1 I GG gehört zu den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen.
Die wichtigste Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips bilden die Grundrechte. Sie konkretisieren es in verschiedene Richtungen und machen es durch ihre subjektive Ausrichtung wehrfähig (Maurer, Staatsrecht I, 3. Auflage, München 2003).
Durch die Coronakrise ist z.B. das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG) eingeschränkt worden. Die Versammlungsfreiheit ist nicht nur ein Freiheitsrecht, sondern auch ein demokratisches Mitwirkungsrecht.
Die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Art. 1 und 20 sind extrem wichtige Normen des GG. Sie sind deshalb wichtig, weil Art. 79 III GG regelt, dass diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen unverbrüchlich sind. D.h., dass Änderungen des Grundgesetzes, die die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berühren, unzulässig sind. Man spricht hierbei auch von der Ewigkeitsgarantie.
Natürlich gibt es die Möglichkeit, Grundrechte durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes einzuschränken (Art. 19 I GG). Dies ist durch die Bundesländer in der Coronakrise mit Hinweis auf das Infektionsschutzgesetz (und zuvor durch die Landesgesetze zum Polizei- und Ordnungsrecht) getan worden. Dies kann immer nur temporär gelten, denn Art. 19 II GG legt klar und deutlich fest, dass in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf.
Wenn die derzeitigen Grundrechtsbeschränkungen per Gesetz zu einem Dauerzustand werden würden, wäre ein solches Gesetz mit Hinweis auf Art. 19 II i.V.m. Art. 20 I GG verfassungswidrig, da in die allgemeine Handlungsfreiheit, in die Versammlungsfreiheit und in die Freizügigkeit derart schwer eingegriffen würde, dass damit deren Wesensgehalt angetastet würde.
Hinzu käme, dass durch ein solches Unterfangen die verfassungsmäßige Ordnung i.S.d. freiheitlich-demokratischen Grundordnung beeinträchtigt werden würde. Dann hätten gem. Art. 20 IV GG alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Das Widerstandsrecht gilt nur subsidiär. Soweit das rechtsstaatliche Rechtsschutzsystem funktioniert, kommt das Widerstandsrecht für die Bürger nicht zum Zuge. Spätestens das Bundesverfassungsgericht würde ein solches Gesetz einer Dauerbeschränkung von Grundrechten „kassieren“.
Als Ergebnis ist festzustelle, dass durch die Coronakrise die demokratische Ordnung in Deutschland nicht geschwächt werden kann, weil das Grundgesetz in den Artikeln 19 II, 79 III GG ein Sicherungssystem enthält, dass nur temporäre Grundrechtsbeschränkungen zulässt.
III.
Manche europäische Länder, wie z.B. Ungarn, könnten die Coronakrise dazu nutzen, dauerhaft Grundrechte der Bürger zu beschränken. Die ungarischen Grundrechtsbeschränkungen sehen weder eine Zeitbegrenzung noch eine parlamentarische Kontrolle vor.
Ist solches Verhalten mit dem europäischen Geist vereinbar?
EU-Vizepräsidentin Vera Jovrova hat in einem Interview der WELT am 6.4.2020 gesagt, dass die EU-Kommission durch ihre Rechtsexperten die Notstandsgesetze in allen betroffenen Mitgliedsstaaten prüft, ob sie gegen Artikel 2 des EU-Vertrags, also gegen demokratische Werte und Grundrechte, verstoßen.
Artikel 2 des EU-Vertrags legt fest, dass sich die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte sind.
Auch in Europa gelten für die Rechtsstaatlichkeit die gleichen Maßstäbe wie in Deutschland, also im Wesentlichen die Garantie der Grundrechte. Dies findet seine spezielle Ausprägung in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Auch in der EMRK ist festgelegt, dass im Notstandsfall Maßnahmen getroffenen werden können, die von den in der EMRK vorgesehenen Verpflichtungen abweichen. Die Coronakrise ist unstreitig ein Notstandsfall, sogar ein weltumspannender Notstandsfall. Jedoch sind diese Maßnahmen nach Ende des Notstands außer Kraft zu setzen, so dass die Konvention in dem Mitgliedsstaat wieder volle Anwendung findet (Art. 15 I, III EMRK).
Sofern ein Mitgliedsstaat gegen die EMRK verstößt, kann dies durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sanktioniert werden.
Bei Verstoß gegen den EU-Vertrag kann gegen den entsprechenden Mitgliedsstaat das Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet werden mit Sanktionsmöglichkeiten (Verlust des Stimmrechts bis hin zum Ausschluss aus der EU). Auch hier kann ein Gericht angerufen werden, nämlich der Europäische Gerichtshof (Art. 19 EUV).
HK 7.4.2020