I.
Im Zuge der Corona-Pandemie fordert die Wirtschaft, fordern aber auch gesellschaftliche Gruppen mehr und mehr Lockerungen der bestehenden Freiheitsbeschränkungen.
Die Wirtschaft leidet sehr unter diesen Beschränkungen. Auch die Fußball-Bundesliga will unbedingt wieder ihren Spielbetrieb aufnehmen. Es ist deshalb nach diesseitiger Ansicht nachvollziehbar, wenn sich die Stimmen nach Aufhebung der Freiheitsbeschränkungen mehren.
Es gibt mittlerweile Gerichtsurteile, die die Begrenzung der Verkehrsfläche in Geschäften auf 800 Quadratmetern beanstanden. Dies sei gleichheitswidrig, da es für Handel mit Kraftfahrzeugen, Fahrrädern und Büchern keine Begrenzung gebe.
II.
Fakt ist, solange es keinen Impfstoff gegen das Coronavirus und auch keine wirksamen Medikamente gegen die Krankheit gibt, ändert sich an der Ansteckungsgefahr und an der Gefährlichkeit des Virus gar nichts.
Im Lichte von Politikeräußerungen der letzten Woche ist die zu diskutierende Frage, ob der Schutz des Lebens in jedem Fall über den Grundrechten und der Würde des Menschen steht und ob die Rückkehr zur Normalität, die die Wirtschaft und z.B. auch Sportverbände fordern, opportun ist.
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) sagte, dass möglicherweise Menschen gerettet werden, die in einem halben Jahr sowieso gestorben wären. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte, man dürfe nicht alles dem Schutz des Lebens unterordnen. Das sei in dieser Absolutheit nicht richtig. Schäuble meint also indirekt, dass man Menschenleben gefährden dürfe, um die Wirtschaft zu schützen. Zustimmung bekommt Schäuble vom renommierten Juristen Ferdinand von Schirach. Dieser meint, dass die Verfassung das Leben nicht um jeden Preis schütze. Wir nehmen Tote im Straßenverkehr in Kauf, weil wir wollen, dass Menschen Auto fahren dürfen (so von Schirach in Allgemeine Zeitung Mainz, 2.5.2020, S. 3 und DIE WELT, 4.5.2020, S. 8).
III.
Unsere Verfassung lässt es zu, dass Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Dennoch ist unsere Demokratie nicht gefährdet, weil die Maßnahmen zeitlich befristet sind.
Wenn Politiker Grundrechte der Bürger beschränken, wie hier zum Schutz von Leben und Gesundheit, dann muss diese Entscheidung verhältnismäßig sein. Das bedeutet:
1. Sie muss einen legitimen Zweck verfolgen. Das Leben von Menschen zu retten, ist ein legitimer Zweck;
2. Die Einschränkungen müssen geeignet sein. Die beschlossenen Maßnahmen sind geeignet, um die Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus einzudämmen, zumindest aber zu verlangsamen;
3. Die Einschränkungen müssen erforderlich sein. Gibt es also mildere Mittel, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielen?
Diese Frage ist ehrlich gesagt nicht eindeutig zu beantworten. Es gibt unterschiedliche Auffassungen des medizinischen Sachverstands. Die einen plädieren für (größere) Lockerungsmaßnahmen wohl auch im Hinblick auf soziale und wirtschaftliche Folgen, die anderen warnen davor und wollen den Lockdown aus Gründen der Vorsicht unbedingt beibehalten.
In diesem Fall des Dilemmas können die politischen Entscheidungsträger nur eines machen: sie müssen bei ihren Entscheidungen äußerst vorsichtig agieren, also immer auf die medizinischen Pessimisten hören. Sollte es nämlich bei zu schnelleren Lockerungsmaßnahmen zu einer zweiten Pandemiewelle kommen, werden dafür die politischen Entscheidungsträger verantwortlich gemacht, die in der Regel selbst über keinen medizinischen Background verfügen. Was in jedem Fall für die politischen Entscheidungsträger spricht, ist deren Unerfahrenheit einer solchen Viruskrise, die von der Bevölkerung durchaus akzeptiert wird. Dennoch erwartet die Bevölkerung von ihnen verantwortliches Handeln, um größtmöglichen Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger zu garantieren.
Insofern ist nach diesseitiger Ansicht festzustellen, dass es zu den anfangs beschlossenen Freiheitsbeschränkungen bislang kein milderes Mittel gibt;
4. Die Einschränkungen müssen angemessen sein. Sie sind angemessen, wenn die Nachteile, die mit den Freiheitsbeschränkungen verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirken. Die beschlossenen Maßnahmen sind angemessen, da dadurch ein größtmöglicher Schutz vor der Ansteckung mit dem Coronavirus bewirkt werden soll. Wenn die Zahl der infizierten Personen nicht mehr deutlich ansteigt, sondern sogar abnimmt, müssen im gleichen Maß die intensiven Freiheitsbeschränkungen gelockert werden. Das ist dann verfassungsrechtlich auch geboten. Es bleibt eine Abwägungsfrage.
III.
Zurück zu der unter II. gestellten Ausgangsfrage. Steht der Schutz des Lebens in jedem Fall über den Grundrechten und der Würde des Menschen?
Schäuble verneint dies, indem er sagt, dass man nicht alles dem Schutz des Lebens unterordnen dürfe.
Von Schirach pflichtet ihm bei und nennt als Beispiel für das allgemeine Lebensrisiko den Straßenverkehr.
Auch der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio schlägt in die gleiche Kerbe und nennt neben dem Straßenverkehr das Skifahren, den Bewegungsmangel oder die Fehlernährung und meint daraus, dass der Staat diese Risiken als sozialadäquat hinzunehmen hat und er somit keinen absoluten Lebensschutz schuldet (DIE WELT, 4.5.2020, S. 2).
Meine Bewertung:
Dies muss differenziert betrachtet werden. Diese von Schäuble, von Schirach und di Fabio genannten Beispiele sind mit der Corona-Pandemie so nicht vergleichbar.
Bezüglich des Straßenverkehrs hat der Gesetzgeber eine Straßenverkehrsordnung erlassen. Hiernach hat sich jeder Teilnehmer am Straßenverkehr so zu verhalten, dass kein anderer gefährdet oder geschädigt wird. Mehr als diese Generalklausel kann der Staat für den Lebensschutz nicht machen (außer Bußgelder bei Verkehrsübertretungen als Lerneffekt zu verhängen). Sollte es dennoch zu Verkehrsunfällen kommen, hat immer ein individueller Verkehrsteilnehmer die Ursache durch ein (grob)fahrlässiges Verhalten gesetzt und nicht der Staat. Der Staat kann daher kein verkehrsunfallfreies Verhalten der Verkehrsteilnehmer garantieren.
Bezüglich des Skifahrens gibt es auf den Skipisten Regeln, die die entsprechenden Aufsichtsbehörden gesetzt haben. Auch hier kann der Staat nicht mehr machen. Wenn ein Skifahrer diese Regeln missachtet und andere Skifahrer kommen zu Schaden, liegt auch hier ein individueller Fehler eines Skifahrers und nicht des Staates vor.
Bewegungsmangel und Fehlernährung fallen unter die Selbstverantwortlichkeit der Bürger. Wenn Bürger durch Bewegungsmangel oder Fehlernährung zu Tode kommen, ist dies nicht dem Staat anzulasten.
Bei diesen Beispielen zeigt sich, dass der Lebensschutz, den der Staat uns Bürgern schuldet, da seine Grenzen findet, wenn dem Staat direkte Einwirkungsmöglichkeiten auf menschliches Handeln versagt wird.
Anders sieht es aus, wenn der Staat zur Gefahrenabwehr tätig werden muss. Bei der Corona-Pandemie kommt ein Virus auf uns zu, den keiner sehen, riechen oder schmecken kann. Dieser unsichtbare Gegner richtete schon hohen Schaden an. Tausende von Menschen starben und zigtausende von Menschen wurden von diesem Virus infiziert. Es war also von einer abstrakten Gefahr auszugehen.
Nach diesseitiger Auffassung gilt das menschliche Leben absolut, wenn es um die Abwehr einer Gesundheits- und Lebensgefahr aufgrund einer Pandemie geht, weil das Recht auf Leben in Verbindung mit dem absolut geltenden Würdeschutz eines der Höchstwerte der Verfassung ist.
Das Recht auf Leben schützt das körperliche Dasein, also die biologisch-physische Existenz. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit hängt eng mit dem Recht auf Leben zusammen. Die körperliche Unversehrtheit umfasst die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne (BVerfGE 56, 54/73 ff.).
Gerichte entscheiden, dass manche Freiheitsbeschränkungen mit dem Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren sind. Ich bin mir nicht sicher, ob die Verwaltungsrichter erkannt haben, dass wir derzeit in keinen normalen Zeiten leben. Es bedroht uns ein unsichtbarer Feind. Hier muss man von den Verwaltungsrichtern ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl erwarten. In normalen Zeiten wären die Gerichtsentscheidungen aus meiner Sicht korrekt. Aber jetzt ist das Hauptaugenmerk von Medizinern, politischen Entscheidungsträgern und Richtern auf die Gefahrenabwehr zu legen.
Ich verkenne nicht, dass nach Beendigung der Corona-Pandemie, wenn alles in Ruhe (rechtlich) aufgearbeitet werden kann, auch festzustellen sein wird, dass an der einen oder anderen Stelle Fehler begangen wurden. Ich bin Jahrgang 1955. Meine Generation trägt gerade Verantwortung in Bund und Ländern. Wir kennen uns mit einer solchen gesundheitsgefährdenden Krise nicht aus (abgesehen von der Ölkrise 1973 oder der Finanzkrise 2008). Deshalb, so mein Eindruck, findet es Akzeptanz in der Bevölkerung, wenn zur Krisenbewältigung auch Fehler gemacht werden.
Zu der Konkurrenz zwischen Freiheitsrechten und den Beschränkungen wegen Corona gibt es eine klare Haltung: die Beschränkungen dürfen nie auf Dauer angelegt sein (weil sie dann verfassungswidrig sind bzw. werden) und sie müssen inhaltlich sehr stark begründet werden. Der Schutz des Lebens ist das höchste Gut und steht über allem. Das rechtfertigt auch Eingriffe in die Bewegungsfreiheit und darf vor allem niemals gegen wirtschaftliche Interessen abgewogen werden.
HK 5.5.2020