Die Allgemeine Zeitung Mainz berichtete in einem Artikel in ihrer Ausgabe am 24.3.2020, dass sich die Bundeskanzlerin wegen einer Behandlung durch ihren Hausarzt, der wiederum positiv auf das Coronavirus getestet wurde, vorsorglich in häuslicher Quarantäne begab und die notwendigen Amtsgeschäfte auf ihren Vertreter im Amt, dem Vizekanzler und Bundesfinanzminister Scholz übertrug.
In dem Zeitungsartikel wurde die Frage aufgeworfen, ob der Vizekanzler u.a. das Recht habe, für die Bundeskanzlerin im Parlament z.B. die Vertrauensfrage i.S.v. Art. 68 Grundgesetz (GG) zu stellen.
Dieser interessanten verfassungsrechtlichen Frage wird wie folgt nachgegangen:
Gem. Art. 69 I GG ernennt der Bundeskanzler einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter. Dies hat die Bundeskanzlerin mit der Ernennung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zum Vizekanzler zu Beginn der Regierungsamtszeit der Großen Koalition im Frühjahr 2018 getan.
Die Bundeskanzlerin / der Bundeskanzler ist die / der Vorsitzende der Bundesregierung. Die Kanzlerin bestimmt gem. Art. 65 S. 1 GG die Richtlinien der Politik und leitet gem. Art. 65 S. 4 GG die Amtsgeschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung (GO).
Die Vertretungsregelung des Bundeskanzlers ist in § 8 der GO geregelt. Wenn der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert ist, so wird er in seinem gesamten Geschäftsbereich gem. Art. 69 GG von einem Bundesminister vertreten, der hierzu vom Bundeskanzler ernannt wurde.
Fraglich ist, ob hierunter auch die Stellung der Vertrauensfrage i.S.v. Art. 68 GG durch den Vizekanzler in Vertretung für den Bundeskanzler zu subsumieren ist.
Gem. § 6 der GO leitet der Bundeskanzler die Geschäfte der Bundesregierung nach Maßgabe des vierten Abschnitts der GO. Hiernach kommt dem Bundeskanzler im Wesentlichen eine Koordinierungsfunktion hinsichtlich Gesetzentwürfe und Rechtsverordnungen zu. Der Bundeskanzler leitet die Kabinettssitzungen; er leitet beschlossene Vorlagen den gesetzgebenden Körperschaften zu und zeichnet vom Bundestag beschlossene Gesetze sowie Rechtsverordnungen der Ministerien (Art. 30 II GO) gegen. Er empfängt Regierungs- und Staatschefs zu Konsultationen.
Außer der Richtlinienkompetenz handelt es sich hierbei im Wesentlichen um Verwaltungs- und Repräsentationsaufgaben, also um das sogenannte „Tagesgeschäft“. Tagesgeschäfte sind regelmäßig wiederkehrende Routineaufgaben. Sollte der Bundeskanzler bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben aus welchen Gründen auch immer verhindert sein, wird er durch seinen Vertreter (Vizekanzler) in der Führung der Amtsgeschäfte vertreten.
Gem. Art. 68 I GG obliegt dem Bundeskanzler die Stellung der Vertrauensfrage. Im Normalfall wird ein Bundeskanzler nur dann zu diesem Instrument greifen, wenn die Regierungsmehrheit im Bundestag fraglich geworden ist. Es handelt sich hierbei um eine Krisensituation zwischen der Bundesregierung (im Wesentlichen in der Person des Bundeskanzlers gemeint) und des Bundestages. Es handelt sich somit nicht mehr um das laufende Tagesgeschäft.
Es ist ein Recht des Bundeskanzlers, welches risikobehaftet ist, denn die Vertrauensfrage könnte der erste Schritt zum Amtsverlust bedeuten.
Wird dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen ausgesprochen, könnte er als Minderheitenkanzler weiter regieren oder der Bundeskanzler kann dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen oder der Bundeskanzler kann zurücktreten und damit den Weg zu Neuwahlen freimachen.
Die Initiative der Vertrauensfrage geht vom Bundeskanzler aus. Hierbei handelt es sich nach diesseitiger Ansicht um das höchstpersönliche Recht des Bundeskanzlers, zu diesem er nicht von seinem Stellvertreter vertreten werden kann.
Fraglich ist, ob die Stellung der Vertrauensfrage zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers gehört. Geschäftsbereich ist ein Arbeitsbereich, in dem der Bundeskanzler fachlich (inhaltlich) zu arbeiten hat. Die Stellung der Vertrauensfrage dagegen gehört zum höchstpersönlichen Bereich, der unmittelbar die Person des Amtsinhabers betrifft und somit außerhalb seines Geschäftsbereichs anzusiedeln ist.
Da die Stellung der Vertrauensfrage ein Initiativrecht des Bundeskanzlers darstellt, welches nur er in seiner Person hat und nicht in seinem Geschäfts- (Arbeits-) bereich angesiedelt ist, kann er hierzu nicht von seinem Stellvertreter vertreten werden.
HK 25.3.2020